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18 Jahre - Wenn Freud und Leid nebeneinanderliegen

Ein Tag zwischen Lachen und Leere. Zwischen Dankbarkeit und dem alten Schmerz, der sich manchmal still an den Tisch setzt.


Martin mit unserem Sohn auf dem Arm
Martin mit unserem Sohn auf dem Arm

Wer kennt sie nicht, die weisen Kalender- oder Teebeutelsprüche?


„Du musst nur loslassen“ – Einfacher gesagt als getan, wenn man mitten im schlimmsten Sturm des Lebens steht.


Ich war 33 und Martin 37. Wir waren frischgebackene und stolze Eltern. Keine zwei Monate später war ich plötzlich Witwe.


Es war der 24.06.2007, der alles aus der Bahn geworfen und mein Leben total auf den Kopf gestellt hat. Es war so unwirklich, dass es überhaupt nicht zu begreifen war.


Und wenn ich in diesem Moment eines überhaupt nicht konnte oder wollte, dann war das loslassen. Weder meinen gerade tödlich verunglückten Mann noch den Papa unseres acht Wochen alten Säuglings.


Was ich jedoch zu gerne loslassen wollte, war mein gerade Scheiß beschissenes Leben.



Wenn Weisheit nicht hilft


„Du musst nur loslassen.“

Ach so. Nur? Na dann hätte ich mir einiges an Trauer, Schmerz, Wut und Taschentüchern wohl sparen können.


Oder der Klassiker


„Die Zeit heilt alle Wunden.“

Ja dann, geh ich halt mal einen Kaffee trinken ...

Aber es gibt Wunden, die können wohl nie heilen. Wie auch? Warum auch?

Wenn sowieso alles keinen Sinn mehr hat.


Natürlich waren diese Redensarten lieb und gut gemeint.

Heute verstehe ich auch, dass die meisten Menschen in solchen Ausnahmesituationen schlicht selbst überfordert sind. Wie soll man auch mit dieser Endgültigkeit und der Unfassbarkeit des Todes eines geliebten Menschen umgehen oder ihn irgendwie begreifen?

Was soll man in diesem Moment Schlaues sagen? Wie soll man eine junge Frau in dieser Situation trösten? Einem Baby erklären, dass es ohne seinen Papa aufwachsen wird?


Die Wahrheit ist: Es gibt Momente im Leben, da versagen sämtliche Worte. Selbst der Kalenderspruch des Tages: „Das Leben meint es gut mit dir“, klingt in so einem Augenblick schlimmer als Fingernägel auf der Schultafel.

Was soll man diesen Binsenweisheiten abgewinnen?

In solchen Fällen kann man sie alle nur in die Tonne treten.


Ich erinnere mich noch gut an diese Zeit, als ich genau solche trostspendenden Worte zu hören bekam. Wie oft habe ich sie dankend angenommen und gelächelt, nur damit niemand merkte, wie leer ich mich fühlte. Wie oft ich genickt habe, um Gespräche zu beenden, die sich wie Sandpapier auf meiner Seele anfühlten und wie oft habe ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen, weil ich gemerkt habe, dass viele es oft selbst nicht aushalten konnten, keine Lösung für dieses Problem zu haben.

Zu erahnen, dass sämtliche Kalenderweisheiten keine magischen Worte waren, um alles ungeschehen zu machen.

Die Gewissheit, dass man kein Happy End aus dem Hut zaubern konnte.

Es auch keine Antworten auf die scheinbar endlosen Fragen nach dem „Warum?“ und „Wie soll das Leben überhaupt weitergehen?“ gab.


Rückblickend weiß ich: Was mir am Anfang der Trauer geholfen hat, waren noch lange nicht die Weisheiten aus diesen Sätzen. Am Anfang waren es einfach immer Menschen. Liebevolle Menschen, die einfach da waren. Die neben mir saßen, ohne zu reden. Die mit mir weinten und dabei meine Hand hielten. Die mein Kind abgeholt haben, wenn ich nicht mehr konnte. Die uns mitnahmen, damit wir wieder hinauskamen. Die Essen vorbeigebracht, oder einen Tee gekocht haben. Die mir kein „Kopf hoch“ aufgedrängt, sondern mein hängendes Herz einfach mitgetragen haben. Still und leise. Ganz selbstverständlich.


Und dann, irgendwann, ganz lautlos, habe ich selbst einen Zugang zu diesen weisen Worten und Sprüchen gefunden. Darin eine Wahrheit gefunden. Für mich. Für Martin. Für mein Kind. Für mein Leben. Das kam aber nicht über Nacht oder auf Knopfdruck. Es war ein Prozess. Ein kraftvoller Prozess, der seine Zeit gedauert hat. Den man weder durch Verdrängung erreichen, noch mit einer Abkürzung beschleunigen kann.

Ich bin überzeugt, dass man alle möglichen und unmöglichen Gefühlslagen in der Phase der Trauer durchlebt haben muss, um das Unfassbare irgendwie zu begreifen, irgendwann zu akzeptieren und dann wieder weiterleben kann. (z.B. Die fünf Phasen nach Kübler-Ross: Leugnung, Wut, Verhandlungsversuche, Depression und Akzeptanz).


Stell dir vor, du bist tief unter einem Geröllfeld begraben, umgeben von dunklen, kalten Steinen. Der Weg nach oben liegt verborgen und du bist auf dich alleine gestellt, um ihn freizulegen. Nachdem du dir die Seele aus dem Leib gebrüllt, die Tränenkanäle versiegt und du dir vor Wut fasst die Hand zerquetscht hast, fängst du an, Stein für Stein genauer zu betrachten. Du nimmst ihn in die Hand. Drehst ihn um. Starrst ihn an. Schiebst ihn auf die Seite. Hin und Her. Vor und zurück. Es ist mühsam. Aber mit jeder Bewegung kommt ein wenig mehr Licht durch die Risse.

Und dann, wenn du das Geröll in Bewegung gesetzt hast, Stein für Stein abgetragen hast, verstehst du, dass jeder einzelne Stein, jede kraftraubende Bewegung Teil des Prozesses war. Alles war nötig, damit du an diesen Punkt gekommen bist. Du diesen Moment erreicht hast.

Dann stehst du endlich wieder im Sonnenlicht, kannst das Leben neu spüren, mit einer Intensität und Dankbarkeit, die vorher völlig unmöglich, wenn nicht sogar ausgeschlossen schien.


Aber wie es eben manchmal im Leben so ist, wenn man unter so einem Geröllfeld begraben liegt, gibt es trotzdem auch Hilfe von Außen. Menschen, die schon immer da waren und Menschen, die einfach so in mein Leben traten und mich ein Stück durch die schwere Zeit begleitet haben.


In erster Linie waren es bei mir natürlich meine Eltern. Sie hatten schon immer eine grundpositive Haltung dem Leben gegenüber. Nicht als leere Floskel, sondern als gelebte Überzeugung. Mein Vater, der als Berufsfeuerwehrmann und Rettungssanitäter sicher mehr als einmal mit dem Schicksal auf Tuchfühlung ging, pflegte eine einfache Devise: Das Leben geht immer weiter. Manche Dinge lassen sich nicht ändern, aber wir können entscheiden, wie wir damit umgehen. Und genau das haben mir meine Eltern vorgelebt: Nicht aufgeben, sondern das Beste aus dem machen, was ist. Auch wenn es hart ist.


Doch so sehr mir diese innere Haltung meiner Eltern geholfen hat, war da doch ein Riss in meinem Leben, der sich nicht einfach mit Optimismus kitten ließ. Ich war plötzlich allein. Mit diesem Schmerz im Herzen, der Leere, die sich in alle Ecken meines Alltags fraß. Da tauchten wichtige Fragen mit der Zahnbürste in der Hand vor dem Spiegel auf: „Wozu eigentlich noch Zähneputzen?“


So bin ich, ein wenig orientierungslos, aber mit einem Funken Hoffnung, in einer Trauergruppe gelandet.

Diese Trauergruppe war für mich neben meinen Eltern ein weiterer sicherer Hafen in einem stürmischen Meer. Es tat so gut, mit Menschen zu sprechen, die Ähnliches durchlebt hatten. Kein Erklären, kein Rechtfertigen, einfach nur Sein. Da konnte ich sagen, dass die Wäsche liegen geblieben ist und ich seit Tagen nicht geduscht habe, ohne dafür schiefe Blicke zu ernten. Weil alle wussten: Manchmal sind die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge im Leben ein unüberwindbarer Kraftakt.

Routinen verlieren ihre Bedeutung, Alltagslogik verabschiedet sich.


Martins fleckiges Shirt war schon lange zu meiner zweiten Haut geworden. Tag und Nacht. Ich konnte sein Bett nicht waschen. Nicht aus Nachlässigkeit, sondern weil sein Geruch das Einzige war, was mir den letzten Funken an Gefühl gab, ihm noch nahe zu sein. Mein nächtlicher Zufluchtsort, mein leiser Trost.


Und doch kam irgendwann der Zeitpunkt, in dem ich spürte, dass ich aus der Trauergruppe herausgewachsen war. Die Themen hatten sich verschoben, andere Dinge rückten in den Fokus. Ich habe wieder die dreckigen Fenster wahrgenommen und die Angebotsprospekte der Woche durchforstet. Ich konnte mich auf einen Mädelsabend mit Cocktail und Pizza freuen. Ich konnte Martins Kleiderschrank ausmisten und seine Sachen aussortieren. Wie bei einem Umzug habe ich alles in Kartons gepackt. Manche davon weggebracht, andere in den Keller getragen. Traurig. Schmerzhaft. Aber das Leben fühlte sich auch wieder ein Stück leichter an.


Die wöchentlichen Treffen der Trauergruppe, die wie ein Anker fungierten, waren plötzlich nicht mehr nötig. Es ist wie beim Laufen lernen. Irgendwann lässt du los und läufts alleine.

An dieser Stelle möchte ich von Herzen der heutigen Nikolaidis Young Wings Stiftung danken, dass es dieses Angebot damals gab. Dass ich dort zu einer Zeit aufgefangen wurde, in der ich es allein nicht mehr tragen konnte.



Etwas Neues entdecken


Und dann gab es da noch so einen Moment, der mir bis heute Gänsehaut beschert und mich zugleich immer wieder daran erinnert, dass es sich lohnt, weiterzumachen.


In einer Trauerberatung bekam ich eine ungewöhnliche Aufgabe: Ich sollte einen Brief schreiben. So, als wäre ich gestorben und Martin wäre geblieben.

Was hätte ich ihm gewünscht?


Ich war überrascht, wie schnell ich die wichtigsten Gedanken zu Papier bringen konnte. Ich wollte einfach nur, dass er wieder glücklich wird. Dass er weiterlebt. Nicht nur wegen unseres Kindes, aber auch. Ich wollte, dass er wieder liebt, dass er eine neue Frau an seiner Seite hat, mit der er lacht, streitet, Pläne schmiedet. Dass er einfach wieder glücklich wird.

Ich wollte nicht, dass er im Schmerz stecken bleibt oder verzweifelt, sondern dass er das Leben wieder mit offenen Armen empfängt.


Mehr war es eigentlich gar nicht.


Und während ich das schrieb, wurde mir plötzlich klar: Das hätte auch er mir gewünscht.


Dieser Gedanke begleitet mich bis heute. Er schenkt mir Kraft und so etwas wie eine stille Erlaubnis, wieder glücklich sein zu dürfen.

Viele Betroffene quält genau diese Frage: Darf ich überhaupt wieder lieben? Wäre es meinem verstorbenen Partner recht?

Ich glaube: Ja. Natürlich. Warum auch nicht?

Vielleicht ist es gar nicht der Verstorbene, den wir fürchten zu enttäuschen, sondern nur unsere eigene Angst vor dem Weitermachen, Weiterleben, Weiterlieben, die wir als Ausrede verkleiden.



Hollywood trifft Herz


Ja, ich weiß, es klingt kitschig. Aber „P.S. Ich liebe dich“ war für mich mehr als nur ein Film. Ein weiteres Beispiel, das mir geholfen hat. Wie ein unerwarteter Lichtstrahl in meinem dunklen Steinehaufen. Natürlich nicht sofort, aber Monate später erkannte ich: Ich bin nicht allein.

Szenen, die beinahe eins zu eins zu meinem Leben passten, gaben mir das Gefühl von Nähe und Verständnis. Ich habe, genau wie im Film, Martins Handy Tag und Nacht angerufen. Nur um seine Stimme noch einmal zu hören. Um mich zu vergewissern, dass er wirklich gelebt hat. Und zugleich nicht mehr.


Heute weiß ich, dass Liebe nicht einfach verschwindet. Sie bleibt. Sie wirkt weiter, auch über den Tod hinaus. Und nebenbei geht das Leben unaufhaltsam weiter. Nicht besser. Nicht schlechter. Anders. Nicht wie sonst. Ein neues Kapitel eben.


Und ja, ich schaue den Film heute noch gerne. Mit den Jahren hat sich natürlich mein Blickwinkel verändert. Früher war ich die Frau mit dem gebrochenen Herzen. Heute sehe und verstehe ich auch die Hoffnung zwischen den Zeilen viel klarer.


Das Leben geht weiter. Nicht mit ihm, aber auch nicht ohne ihn. Ohne ihn, aber irgendwie doch mit ihm. In einer neuen, stillen Form.



18 Jahre später


Ein eigentlich erwachsener Mensch sitzt mir gegenüber. Unser Sohn ist jetzt volljährig.

Ein junger Mann, der ohne seinen leiblichen Vater aufgewachsen ist, und doch von einem liebevollen Menschen großgezogen wurde, der für ihn ganz selbstverständlich „Papa“ ist.


Das beste Beispiel, dass Liebe nicht nach Plan passiert, sondern mitten im Chaos, zwischen den Trümmern und den Momenten, in denen man denkt, man möchte das Leben aufgeben. Und dann plötzlich steht da wieder jemand ... Bei mir war es Manfred.

Ihm möchte ich einfach nur sagen:

Danke, dass du dein Herz für uns geöffnet hast.

Danke, dass du uns ein zu Hause gegeben hast.

Danke, dass wir zwei wunderbare Kinder haben.



Heute, 18 Jahre später, fällt es mir leicht zu sagen, dass ich „losgelassen“ habe und natürlich „die Zeit die Wunden geheilt“ hat.


Aber Loslassen, Heilen und Zeit sind kein Ziel, sondern ein Weg.


Loslassen. Klingt so simpel, fast wie ein Befehl: „Lass doch einfach los!“

Aber so funktioniert das nicht. Es ist ein Weg. Ein steiniger. Einer mit Umwegen, Rückschritten, stillen Pausen und überraschenden Abzweigungen. Und ja, manchmal steht man am Rand dieses Weges, verschränkt die Arme und sagt trotzig: „Ich will nicht. Ich kann nicht.“


Loslassen passiert in kleinen Schritten. Im Weinen. Im Schweigen. Im Lachen. In Begegnungen, in Büchern, in Liedern, die einen mitten ins Herz treffen. In einem Brief an den geliebten Menschen, der gegangen ist – und in der Erkenntnis, dass man noch so viel zu sagen hatte.


Loslassen ist nicht das Vergessen. Es ist das Anerkennen und Annehmen. Dass etwas vorbei ist. Dass es Teil von dir war und immer sein wird. Aber dass du heute weitergehst. Nicht ohne diesen Menschen. Sondern mit dem, was er dir hinterlassen hat: Liebe. Erinnerungen. Und ein Stück von dir selbst, das du neu entdecken darfst.

Und dann, oft ohne es zu merken, stellst du fest: Du trägst leichter. Nicht, weil du vergessen hast. Sondern weil du angenommen hast.


Loslassen bedeutete nicht, Martin zu vergessen. Er hat seinen festen Platz in meinem Herzen. Natürlich verblassen mit der Zeit auch die Erinnerungen, aber sie sind nie ganz verschwunden.

Auch heute gibt es noch Tage, da spüre ich ihn ganz nah. Nicht, weil ich ihn festgehalten, sondern, weil ich ihn losgelassen habe. Klingt paradox, ich weiß. Aber manchmal sind die größten Wahrheiten eben nicht logisch, sondern nur fühlbar.



Blick zurück


Wenn ich heute zurückblicke, ist da nicht mehr dieser stechende Schmerz, sondern eine Mischung aus Wehmut, Dankbarkeit und einem stillen Lächeln. Auch etwas Stolz.

Ich bin weitergegangen, auch wenn ich nicht immer wollte. Das Leben hat immer wieder gerufen. Mal zärtlich, mal mit einem Tritt in den Allerwertesten.


Vielleicht hatte es auch etwas Gutes, dass ich mich um unseren Sohn kümmern musste.

Ich musste aufstehen, auch wenn ich liegenbleiben wollte.

Ich musste kochen, auch wenn ich keinen Hunger hatte.

Ich musste unter Menschen gehen, auch wenn ich lieber allein sein wollte.


Schritt für Schritt kam das Leben zurück oder vielleicht kehrte auch ich Schritt für Schritt ins Leben zurück.




Fazit? Keins. Nur das hier:


Ja, das Leben geht weiter.

Nicht trotz des Verlusts. Sondern mit ihm.

Und irgendwann – wieder für dich selbst.

Habe den Mut und mach weiter.

Vertraue dir selbst. Vertraue dem Leben.


Wenn dir jemand sagt: „Du musst nur loslassen.“

Dann darfst du innerlich mit den Augen rollen.

Und irgendwann wirst du merken: Loslassen heißt nicht, etwas aufzugeben. Sondern zu erkennen, dass du weitergehst. Mit allem, was war und allem, was noch kommt.


Und das ist wohl die wahre Kunst des Loslassens im Leben.




Vielleicht trägst du auch eine Geschichte in dir und kennst das Gefühl, dass das Leben einen Plan B verlangt, obwohl du noch nicht mal wusstest, dass du dich in Plan A befindest.


Ich freue mich, wenn du mir in den Kommentaren oder in einer Mail schreibst, wie du mit Verlust, Veränderung oder dem Loslassen umgegangen bist, oder wenn du auch noch mittendrin steckst.



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